Das Georgs-Kolleg entsteht

1904 fand auch in der Mädchenschule ein Wechsel statt, es kam als neue Leiterin Schwester Anuntiata Bauer, die die Mädchenschule einer neuen Blüte zuführte.

1905 und 1906 wurden eine erste und eine zweite Vorbereitungsklasse eingerichtet: Die große Zahl jener Kinder erforderte dies, die bei Schuleintritt des Deutschen nicht mächtig waren. 1908 erhielt die Mädchenschule eine dreiklassige Bürgerschule und eine zweijährige Handelsschule, die Knabenschule erhielt ein Realgymnasium und die Handelsschule eine Handelsakademie. Unter diesen Voraussetzungen und nach langen Verhandlungen zwischen Kajdi und dem k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien stellte das Ministerium am 18. September 1911 das St. Georgs-Kolleg den österreichischen Mittelschulen gleich und dessen Absolventen in die gleichen Rechte wie die Absolventen einer in Österreich befindlichen Mittelschule.

Aus 1913 - dem Jahr, in dem ein erstes Mal ein Türke in St. Georg die Reifeprüfung ablegte - ist eine vielsagende Statistik der Knabenschule erhalten: In diesem Jahre waren 129 katholische, 126 griechisch-orientalische, zwei gregorianische, 60 jüdische, 29 islamische Kinder aufgenommen. Ihre Nationalitäten wiederum scheinen repräsentativ für das Konstantinopel der Jahrhundertwende. 99 der Knaben waren Österreicher, 150 Ottomanen, sieben Deutsche, einer Italiener, sieben Franzosen, 11 Engländer, 11 Russen, 29 Hellenen, sieben Rumänen, vier Bulgaren, einer Serbe, einer Montenegriner, sechs Perser, einer Belgier und einer Argentinier. Zur gleichen Zeit waren unter den 350 Schülerinnen der Mädchenschule nur 58 österreichische; eine genauere Statistik von der Mädchenschule ist nicht erhalten.

Das Schulgebäude war allerdings nicht in dem Zustand, wie man ihn für eine wahrhaft internationale Schule annehmen möchte. Kajdi schrieb 1913 in einem Brief, daß

"die St. Georgs-Anstalt außerordentlich entwickelt und heute äußerlich einen respektablen Gebäudeplatz umfaßt. Das Ganze ist aber ein Flickwerk und derzeit vollkommen unzureichend. Die Unterbringung der ganzen Anstalt ist nur durch die Anspruchslosigkeit des Personals, geschickte Improvisation und gottergebenes Fretten möglich. Ein Beispiel: 4 höhere Klassen sind in Zimmerchen untergebracht, welche nicht viel größer sind als meine einfenstrige Klause'. Es mußte auch im laufenden Schuljahr einer großen Anzahl der Kompetenten aus Raummangel die Aufnahme verweigert werden."

Zudem hatte die österreichische Lazaristenprovinz Schwierigkeiten, die in St. Georg benötigte Anzahl von Lehrkräften zu entsenden, und noch in diesem Jahr 1913 beschloß die Provinzleitung in Graz, das Kolleg kurzerhand zu schließen. Das brachte aber Superior Kajdi auf die Beine, so darf angenommen werden, denn er ging unverzüglich zum K. K. Botschafter in Constantinopel, Markgraf Pallavicini, und bat ihn, sich für die Rettung des Kollegs einzusetzen, und er fuhr anschließend nach Graz und Wien, um sich bei Provinzleitung und Ministerium für seine "Anstalt" zu verwenden. Das k. u. k. Ministerium des Äußeren kabelte daraufhin an Lazaristenvisitator Eduard Reeh in Graz:

"Es kommt uns die Nachricht zu, daß seitens des Lazaristenordens die Absicht besteht, die St. Georgs Anstalt in Konstantinopel mit 15. September aufzulassen, beziehungsweise auf den Seelsorgedienst zu beschränken. Da wir das allergrößte Interesse an dem ungeschmälerten Fortbestand des Institutes haben, und insbesondere darauf Wert legen müssen daß jede Unterbrechung des Schulunterrichtes unterbleibe, möchte das k. u. k. Ministerium des Äußeren für den Fall, als tatsächlich die oben erwähnte Absicht bestehen sollte, die dringende Bitte stellen, daß jener Plan rückgängig gemacht werde oder wenigstens dessen Durchführung bis zum Ende des Schuljahres 1913/14 verschoben werde ..."

Die Monarchie griff dem Orden wenigstens soweit unter die Arme, als sie einen Lehrer an das Kolleg entsandte, diesen auch bezahlte und darüber hinaus eine finanzielle Hilfe gewährte. Zudem versprach man in Wien, sich an der Finanzierung eines Neubaues zu beteiligen. Und so brach man die Holzbauten ab und hob eine Baugrube aus - und dann brach der 1. Weltkrieg aus, und man schüttete die Grube wieder zu, weil an den Neubau in dieser Zeit natürlich nicht zu denken war. Der Schulbetrieb aber hatte in den verbliebenen Bauten aufrechterhalten zu werden, also in schlechteren Verhältnissen als zuvor.

Zugleich kam eine neue Situation auf St. Georg zu: Da die Länder, die mit dem Osmanischen Reich und den Mittelmächten im Kriegszustand waren, ihre Schulen in Konstantinopel schlossen, strömten all deren Schüler in die österreichische Schule. St. Georg hatte 1918 nicht weniger als 1450 Schüler und Schülerinnen; untergebracht wurden sie in Räumen, die in der Nachbarschaft angemietet worden waren, und unterrichtet wurden sie von den geistlichen Schwestern und Lazaristen und zudem von acht Lehrern, die von der Monarchie bezahlt wurden.

Ab 1917 wurde Türkisch als Unterrichtssprache eingeführt: Daran ist abzulesen, daß St. Georg nicht nur Ausländern eine Schule war, sondern auch Bürgern der im Wandel begriffenen Türkei.

1919 aber, da sowohl die österreichisch-ungarische Monarchie als auch das Ottomanische Reich zerfielen, war auch für St. Georg ein Ende gekommen. Die Besatzungsmächte schlossen die Schule - der französische Stadtkommandant tat sich hervor, um die "skandalträchtige" "Schule der Boches" zu verbieten - und verwiesen die Österreicher des Landes. Die Barmherzigen Schwestern und die Lazaristen, soweit sie sich zur Republik Österreich bekannten - sechs Priester, vier Laien und 14 Schwestern - fuhren am 19.4.1919 auf der "Resit Pasa" nach Triest und von dort weiter nach Österreich. In die Gebäude von St. Georg aber zogen Flüchtlinge aus Rußland und Ostanatolien ein; die verbliebenen Schwestern versorgten sie.

Bis 1923 herrschte dieser Zustand, dann, unter Mustafa Kemal Atatürk, durfte die Schule wieder geöffnet, durfte Deutsch als Unterrichtssprache wieder eingesetzt werden. Die Schwestern und Lazaristen kehrten zurück und nahmen den Unterricht auf ungefähr unter Umständen, wie sie Stroever seinerzeit gehabt hatte. Dann trat 1924 ein Umstand auf, der zu einer harten Prüfung für die Schule werden sollte: Die Türkei hatte in ihrer Verfassung niedergelegt, ein laizistischer Staat sein zu wollen, Kirche und Staat also strikt trennen zu wollen. Islam und Scharia wurden aus allen Bereichen des staatlich-öffentlichen Lebens verbannt, und zwangsläufig auch der Katholizismus: Im März 1924 schrieben die Behörden der Schule vor, binnen einer Woche Kruzifixe, religiöse Bilder und Standbilder aus den Klassenzimmern zu entfernen.